Gudrun Sander, seit Jahrzehnten steht das Thema Chancengleichheit auf der Agenda des Arbeitsmarkts. Fakt ist aber: Noch immer werden Männer und Frauen ungleich behandelt, wenn es um Karrierechancen oder Lohn geht. Wird nur viel geredet und nichts erreicht?
Gudrun Sander: Nein, Unternehmen haben in der Schweiz in den letzten 15 Jahren sehr grosse Fortschritte gemacht. So ist zum Beispiel die Rate der Wiedereinsteigerinnen nach der Geburt eines Kindes enorm angestiegen – in grossen Firmen auf fast 90 Prozent. Die Arbeitgeber haben ihre Hausaufgaben gemacht; sie haben vor allem rechnen gelernt.
Wie meinen Sie das?
Sander: Dass es ungleich teurer ist, jemanden Neues einzuarbeiten, als eine Frau nach der Mutterschaft weiterzubeschäftigen. So bleibt das Know-how in der Firma erhalten.
Das setzt allerdings voraus, dass Unternehmen Teilzeitpensen anbieten ...
Sander: Genau diese Entwicklung hat zu einem grossen Teil stattgefunden. Der Fachkräftemangel und auch die Haltung der Generation Y, die nicht 100 Prozent und mehr für ein Unternehmen arbeiten will, haben sie vorangetrieben. Die Kreativität der Arbeitgeber ist mittlerweile gross: Sie reicht von Jobsharing über flexible Tage und Zeiten bis zu Homeoffice. Allerdings: Punkto Chancengleichheit ist es nicht damit getan, die Frauen nach der Mutterschaft zu behalten.
Sondern?
Sander: Nur weil Frauen nicht mehr 100 Prozent arbeiten, sind sie nicht dümmer geworden – genau diesen Schluss ziehen aber viele Arbeitgeber. Und nehmen besonders hoch qualifizierte Frauen, die Teilzeit arbeiten, nicht mehr als valable Anwärterinnen auf nächste, anspruchsvollere Aufgaben wahr. Dafür werden Männer wiederum fast dazu genötigt, Karriere zu machen.
Weil ein Mann nur dann ein Mann ist?
Sander: Genau so lautet das Geschlechterstereotyp, ja. Und diese traditionellen Rollenbilder – Mann als Familienernährer, Frau als Zuverdienerin – sind in der Schweiz immer noch sehr stark verankert. In anderen Ländern wurden Frauen während des Zweiten Weltkriegs auf den Arbeitsmarkt gedrängt. Hierzulande ist dieser Schritt ausgeblieben. Hinzu kommt der Wohlstand: Viele Frauen müssen in der Schweiz nicht arbeiten. Es geht um ein Statussymbol.
Für einen Mann ist es hingegen immer noch unüblich, weniger als 100 Prozent zu arbeiten.
Sander: Das stimmt. Er muss sich rechtfertigen. Genauso wie eine Mutter von drei Kindern immer noch als Rabenmutter dasteht, wenn sie Vollzeit arbeitet und Karriere machen will.
Sie sind Mutter von drei Kindern und haben trotzdem Karriere gemacht ...
Sander: Ja. Mein Mann und ich hatten uns dafür ein dreifaches Auffangnetz geschaffen: Wir arbeiteten beide Teilzeit, als die Kinder klein waren, setzten zusätzliche Bezugspersonen ein und nahmen Kinderkrippen in Anspruch. Wenn ich meinen Masterstudentinnen zuhöre, die nach der Geburt ihres Kindes ein paar Jahre zuhause bleiben wollen, bin ich irritiert.
Wollen die jungen Frauen denn von Gleichberechtigung nichts mehr wissen?
Sander: Das ist nicht der Punkt. Meine Studentinnen haben das Gefühl, das sei alles kein Problem mehr heute. Denn sie erleben in ihrem Studium, dass sie alles tun können wie ihre männlichen Kommilitonen auch und dass sie diese zum Teil überflügeln. Sie überlegen sich nicht, wie schwierig ein Wiedereinstieg in die Berufswelt nach einem kompletten Ausstieg sein wird. Und auch nicht, wie es um ihre Altersvorsorge steht, wenn sie sich von ihrem Partner scheiden lassen – was heutzutage sehr wahrscheinlich ist. Deshalb appelliere ich an junge Mütter, am besten 60 bis 80 Prozent im Job zu bleiben. Und falls das nicht geht, dann lieber zu einem kleineren Pensum, als ganz auszusteigen.
Durch ihre Haltung begünstigten diese jungen Frauen doch, dass die klassischen Rollenbilder erhalten bleiben ...
Sander: Durchaus. Es sind eben nicht nur Männer, welche die Stereotypen kultivieren – es sind auch die Frauen selber.
Wie können wir diese Bilder über Bord werfen?
Sander: Indem zum Beispiel angesehene Geschäftsmänner wie Pierin Vinzenz, ehemaliger CEO der Raiffeisen Schweiz, ein Sabbatical einlegen. Da ist ja in der Öffentlichkeit fast eine Welt zusammengebrochen. Passiert ist allerdings nichts. Oder wenn ein Mann in der Geschäftsleitung 80 Prozent arbeitet und sich einen Tag pro Woche – neben dem Wochenende – um die Kinder kümmert. Das hat grosse Signalwirkung.
Es braucht also Rollenvorbilder.
Sander: Sowie Botschafter und Botschafterinnen für die Chancengleichheit. Das müssen auch Männer sein. Denn sie sind es eben noch immer, die in der Wirtschaft an den Schalthebeln sitzen. Nur wenn sie ihr Bild ändern und auch dazu stehen, kann sich etwas verändern.
Verändern müsste sich zum Beispiel nach wie vor die Lohnschere.
Sander: Hier haben wir in der Tat noch eine Baustelle: Die Diskriminierung liegt bei 5 bis 10 Prozent. Dies rührt zum einen daher, dass Arbeitgeber unbewusst dazu neigen, dem Familienvater mehr zu bezahlen als der alleinstehenden Frau oder dem alleinstehenden Mann. Zum anderen liegt es aber auch am altbekannten Umstand, dass Frauen weniger hart verhandeln. Und wenn sie es tun, wird es ihnen übel genommen – was bei einem Mann bestimmt und selbstbewusst wirkt, wird bei einer Frau schnell als geizig oder egoistisch ausgelegt.
Frauen sollen keine Frauen sein, aber auch keine Männer. Was sollen sie dann?
Sander: Es herrscht in der Tat Verunsicherung bezüglich der Geschlechterrollen – auch bei den Männern. Doch darin liegt Potenzial! Es geht darum, sich zu reflektieren und so zu neuen Lösungen und Bildern zu kommen, welche die Chancengleichheit erleichtern.
Haben Sie konkrete Tipps für Unternehmen, wie sie die Chancengleichheit aktiv erleichtern können?
Sander: In den USA etwa werden beim Eingang der Bewerbungen Alter und Geschlecht geschwärzt, ein Foto ist nicht mehr üblich. Und in Frankreich ist es verboten, das Alter anzugeben. Dies bewirkt, dass die Bewerberinnen und Bewerber die erste Hürde aufgrund ihrer Qualifikationen nehmen. Und nicht wegen ihrer Hautfarbe, Schönheit, ihres Alters oder Geschlechts.