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Selbstorganisierte Teams: Chance oder Hype?

Wie können wir auf die sich rasch verändernde Umwelt reagieren? Das fragen sich Unternehmen immer mehr. Eine mögliche Antwort für mehr Innovation sind selbstorganisierte Teams. Doch was bringt dies mit sich – und was bedeutet es für die Rekrutierungsverantwortlichen?

04. April 2022

Selbstorganisation verspricht mehr Effizienz und Produktivität, es klingt nach Innovation und Fortschritt. Doch was es genau bedeutet, wenn sich Teams selbst organisieren, ist vielen unklar.

Grundsätzlich sagt der Begriff schon vieles aus: Die Teams organisieren sich selbst. Allerdings sind die Handlungsmöglichkeiten nicht grenzenlos, denn es bestehen weiterhin Strukturen und Verantwortlichkeiten. Ein grosser Unterschied zu klassischen Organisationsformen besteht darin, dass die Teammitglieder gemeinsam Entscheidungen treffen, ohne dass diese von «oben» gesteuert werden. Die Hierarchien werden flacher, Vorgesetzte und Mitarbeitende begegnen sich auf Augenhöhe. Das Team kann also durchaus einen anderen Weg zum Ziel wählen, als die vorgesetzte Person vorgeschlagen hat. Damit übernehmen die Mitarbeitenden mehr Verantwortung und engagieren sich stärker.

Selbstorganisation kann sogar noch weiter gehen, wie Olaf Geramanis erläutert: «Bei Google etwa erhalten neue Mitarbeitende ein halbes Jahr Zeit, um ihre Aufgaben zu finden. Sie sollen selbst zeigen, wo sie ihre Fähigkeiten am besten im Unternehmen einsetzen können, und dadurch einen Mehrwert bringen.» Geramanis, der zu Prozessen der Selbstorganisation und Selbststeuerung forscht und doziert, ist überzeugt, dass die neue Organisationsform ein Unternehmen zukunftsfähiger machen kann. Allerdings nur, wenn dieses auch bereit dazu ist.

Und wozu das alles?

Durch die Digitalisierung, den demografischen Wandel und die Globalisierung müssen sich Unternehmen fragen: Wie können wir auch mit dem Tempo und der Komplexität mithalten und uns gut positionieren? Wie werden unsere Teams innovativer, schneller, und wie arbeiten sie besser zusammen? Sind wir noch attraktiv für die Talente? Gerade jüngere Generationen wie die Generation Z wünschen sich vom Arbeitgeber mehr Partizipation und Freiheiten.

In klassischen Organisationsformen mit fremdgesteuerten Teams wird den Mitarbeitenden abgewöhnt, selbst Verantwortung zu tragen und Entscheidungen zu treffen. Denn durch die hierarchischen Strukturen ist vorab geregelt, welche Aufgaben sie übernehmen und wie sie miteinander zusammenarbeiten. Es gibt wenig Freiraum, den eigenen Aufgabenbereich voranzutreiben.

Mehr Motivation und Innovation

Eine solche Arbeit in klassischen Organisationsformen ist weder kreativ, innovativ noch dienstleistungsorientiert. «Das ist aber genau der Mehrwert, den wir heute brauchen», so Geramanis. Denn zunehmend übernehmen Maschinen Aufgaben, die nicht komplex sind. «Die kreative und innovative Arbeit aber – ob das nun Programmieren, Wissens- oder Dienstleistungsarbeit ist – ist nicht durch Maschinen ersetzbar. Unternehmen müssen daher Wege finden, wie ihre Mitarbeitenden mit anderen wirklich Neues erschaffen.»

Diese Chance bieten selbstorganisierte Teams. Dort müssen sich die Mitarbeitenden miteinander austauschen, sie müssen vernetzt denken und selbst Lösungen suchen. All das fördert die Innovationskraft und damit einhergehend die Produktivität.

Macht abgeben und andere Herausforderungen

«Selbstorganisation ist aber keine Lösung für alles und jeden», stellt Olaf Geramanis klar. Vielmehr ist sie ein grosser Umstellungsprozess, und das Unternehmen muss bereit sein, Macht abzugeben. Die wichtigsten Voraussetzungen für funktionierende Teams:

  • Soll das neue System funktionieren, müssen die Mitarbeitenden ihre spezifische Form der Zusammenarbeit zunächst selbst organisieren. Dazu brauchen sie Zeit, um sich aufeinander einzulassen und sich kennenzulernen. Das geht nicht von heute auf morgen.
  • Freiräume für Soziales und Unkontrollierbares sind wichtig. Einerseits, damit die Teammitglieder gegenseitiges Vertrauen aufbauen können, andererseits sind Innovation und Kreativität nicht auf dem Raster planbar.
  • Komplexe Entscheidungen brauchen zumeist länger als die Entscheidungsfindung bei klassischen Organisationen, da es dort nur die Auswahlmöglichkeit A oder B gibt. Und Vorgesetzte müssen damit leben können, dass sie nicht mehr alles unter Kontrolle haben.
  • In selbstorganisierten Teams nehmen die einzelnen Personen eine viel wichtigere Rolle ein. Nicht der Aufgabenkatalog steht im Zentrum, sondern die Mitarbeitenden mit ihren Fähigkeiten, die im Team einen Mehrwert schaffen. Das macht ein Unternehmen abhängiger von den einzelnen Mitarbeitenden als in klassischen Organisationsformen.

Rekrutierung: Das Bauchgefühl wird wichtig

Bei der Zusammenstellung von selbstorganisierten Teams ist die Expertise und Erfahrung der Rekrutierungsverantwortlichen sehr wichtig. Denn das Team sollte gut durchmischt sein, damit sich die einzelnen Personen gut ergänzen – unterschiedliche Persönlichkeiten, Fähigkeiten und Arbeitserfahrungen. Dabei stehen die fachlichen Qualifikationen nicht mehr allein im Vordergrund: Je personenorientierter die Arbeit ist, desto wichtiger sind zwischenmenschliche Kriterien. Die Person sollte bereit sein, sich auf das Team und die Unternehmenskultur einzulassen – und umgekehrt genauso.

Rekrutierungsverantwortliche müssen also das Team und dessen Dynamik gut kennen, wenn sie ein neues Gruppenmitglied rekrutieren. Das Bauchgefühl wird wichtiger. Letzten Endes braucht es ein gutes Gespür für die Menschen und die Gruppendynamik. Und das kommt mit der Erfahrung.

«Ändern Sie nicht alles auf einmal» - Interview mit Prof. Dr. Olaf Geramanis

Was sind die häufigsten Bedenken, die Sie im Zusammenhang mit Selbstorganisation hören?
Viele haben eine vage Idee, was Selbstorganisation ist – und sind dann ganz erschüttert, wenn sie sehen, dass es nicht mehr darum geht, eine Rolle zu bekleiden, sondern dass die eigene Person in den Fokus gerät. Aber Selbstorganisation heisst genau das: der Wechselwirkung von Personen Raum zu geben. Und das erfordert neue Kompetenzen. Wir müssen zuerst lernen, im Arbeitsalltag so personenorientiert und nah zusammenzuarbeiten. Bauchgefühl, Intuition, Menschenkenntnis und Vertrauen sind zentrale Voraussetzungen. Und genau da zögern einige. Sie hätten es lieber sachlich und fachlich. Aber dann funktioniert Selbstorganisation nicht.

Was ist die grösste Herausforderung?
Ich höre oft: Erklär mir, wie Selbstorganisation geht. Aber das ist eine Illusion. Ich kann nicht für ein Unternehmen von aussen entscheiden, wie es seine Selbstorganisation initiieren kann. Das muss jede Organisation und jedes Team für sich selbst definieren. Diese anfängliche Verunsicherung, wenn die Strukturen wegfallen, ist oft die grösste Irritation. Viele wünschen sich dann Tools und klare Entscheidungsmechanismen – und die Verführung, den raffinierten Change-Methoden zu folgen, ist gross. Aber sie ändern nichts an der Tatsache, dass wir uns individuell sozial einigen und unsere Kriterien selbst definieren müssen. Diese Arbeit muss jedes Team für sich leisten. Und das braucht Zeit.

Können Sie Unternehmen Tipps geben für den Aufbau von selbstorganisierten Teams?
Selbstorganisation ist kein «Alles oder Nichts». Man muss nicht alles auf einmal und von Grund auf ändern. Lassen Sie erst einmal kleine Einheiten die neue Organisationsform testen. In einem Spital, das wir beraten, teilen beispielsweise die Pflegeteams ihre Schichten und Ferien selber ein, und damit müssen sie es untereinander aushandeln. Das war am Anfang harzig, aber am Ende fanden sie viel kreativere Lösungen als die Vorgesetzten.

Prof. Dr. Olaf Geramanis beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Gruppendynamik und personenorientierter Beratung. Als Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz ist er u.a. Programmleiter CAS Changeprozesse in Organisationen – Selbstorganisation und Agilität.

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